Töten verlernt man nicht
Das Töten ist mir nie sonderlich schwer gefallen. Es gehörte Zeit meines Lebens dazu wie das Atmen. Willst du Fleisch essen, musst du vorher ein Tier töten. So einfach war das. Das Töten selber verlernt man auch dann nicht, wenn Jahrzehnte vergehen. Es sind immer die gleichen Handgriffe. Ein sanfter Griff, eine sichere Hand.
Alles zurechtgelegt, damit es niemals hektisch wird. Die Vorbereitung war immer mein Ritual. Mit jedem Schritt, mit jedem Atemzug werde ich ruhiger. Wenn ich alle meine Dinge beisammen habe, sind Herzschlag und Atmung vollkommen im Einklang. Alles muss ordentlich sein, alles ruhig. Es geht um Frieden in diesem grausamen Akt. Alles liegt bereit, alles nur einen Wimpernschlag voneinander entfernt.
Ich habe viele Tiere sterben sehen. Und hören. Viele haben grausam geschrieen, wenn sie herausgezogen wurden, an den Hinterbeinen hochgerissen, bis der Tod als Erlösung kam.
Ich war noch sehr sehr klein, als ich mir geschworen habe, dass kein Tier, das jemals durch meine Hand sterben würde, einen solchen Tod erleiden würde.
Und so kam es.
Ich habe gegenüber meinem Vater und auch meinem Großvater früh eine Grenze gezogen, dass ihre Art des Tötens nicht die Meine sein würde.
"Einen stillen Tod gibt es nicht, Kind!", sagte mein Großvater streng zu mir, bis er mir das erste Mal zusah. Danach haben wir nie wieder davon gesprochen
Was erst im Laufe meines Erwachsenenlebens hinzukam, ist die überwältigende Ehrfurcht.
Der Moment mit dem Tier zum Zeitpunkt seines Todes.
Die Intimität.
Die Dankbarkeit.
Demut.
[Nachtrag: Interessanterweise war der Anlass für diesen Beitrag, dass ein Tier von seinen Qualen erlöst wurde. Nicht, um es zu essen.]
Vom Hinterlassen
Wer die Lebenden zurücklässt, sollte etwas von sich hinterlassen.
Das können Traditionen sein oder Erinnerungen von Erlebnissen, von Momenten.
Und für mich von besonderer Bedeutung sind die letzten Worte.
Worte, die ein Mensch bewusst für den Fall seines Sterbens hinterlässt.
Worte an geliebte Menschen. Partner, Kinder, Eltern, Freunde.
Als mein Großvater starb, hatte er solche Worte. Für mich.
Als wir alleine waren, in seinem Zimmer, und der Mann mit den drei Kindern schon rausgegangen war, da bekam ich seinen Segen für mein Leben. Seinen Stolz, seine Anerkennung und seine Liebe. Dankbarkeit für mich.
Dieser Moment war so tief, so bewegend, so rund und seelisch so sättigend, dass ich bis heute davon zehren kann.
Ich bewahre die letzte Begegnung wie einen Schatz in meinem Inneren.
Er wusste, dass er stirbt.
Es gibt dieses letzte Foto, auf dem seine Augen mich direkt anblicken.
Fast blauweiß, wissend, voller Liebe.
Ein Abschied.
Er hat sein Leben gelebt, voller Höhen und Tiefen.
Den Krieg nie vergessen.
Als er anfing zu fallen, konnte er alleine mit Oma nicht mehr leben und im Altenheim war es für ihn grauenhaft.
Also formulierte er, dass er das nicht wollen würde, da würde er lieber sterben, als so zu leben.
Und das tat er dann auch 4 Wochen nach seinem Umzug dorthin.
Im Beisein meiner Großmutter an seinem Bett.
Als die Mutter der Zusatzkinder starb, hatte sie davor zweieinhalb Jahre Erkrankung Zeit, ihre Dinge zu regeln.
Und damit meine ich nicht das Chaos und den Berg von Schulden, den sie ihren Kindern hinterlassen hat.
Das sind äußere Umstände. Die Inneren meine ich.
Das, was aus ihr heraus noch hätte weitergegeben werden können.
Sie hat sich dagegen entschieden.
Als sie im Februar ins Hospiz kam, hatte sie noch Zeit für fatale letzte Worte.
Sie hat zwei Monate an ihrer Grabrede gearbeitet, die so voller Bitterkeit war, dass ich immer noch schlucken muss, wenn ich mich an die Worte erinnere.
Kein Wort hat sich an ihre Kinder gerichtet. Keines.
Sie hat ihnen nichts hinterlassen, nichts geschrieben, sich nicht verabschiedet.
Keine Anweisungen für die Zukunft, keine Wünsche für Hochzeiten, Erwachsenwerden, Kinderkriegen, Meilensteine, kein letztes "Ich liebe euch", nichts.
Diese letzten Worte voller Verbitterung und ungelöster Wut und schwärendem Hass sind das letzte, das ihre Kinder irgendwann einmal von ihr lesen werden.
Wir haben Fotos zusammengesucht, entwickeln lassen, versuchen immer noch, ihre Erinnerung aus Erzählungen lebendig zu halten, aber es gelingt nicht gut.
Es ist, als wäre sie nie dagewesen. Die Kinder suchen im Nichts nach Etwas.
Und so verschwimmen ihre Umrisse immer weiter bis zur Grenze des Fassbaren für ihre Kinder.
Als Uroma starb, da ging dem ganzen Sterben ein rapider Verfall voraus. In Absprache mit dem Arzt hat sie sich für das Sterben entschieden.
Erst mehrere Wochen Medikamentenverweigerung, dann Essensverweigerung, dann Flüssigkeitsverweigerung und dann dauerte es noch einmal lange 6 Tage, die wir hier mit dem Tod verbracht haben, bis ihr Herz das letzte Mal schlug.
Und als es absehbar war, da habe ich mir so sehr noch einen Rat gewünscht.
Etwas, das sie mir mit auf den Weg gibt.
Auch meinetwegen ein Fazit aus ihrem Leben, aber da war nur Platz für die Enttäuschung und verschmähte Liebe für ihren eigenen Sohn, der das letzte Versprechen gebrochen hat, zu ihrem 90. Geburtstag ein letztes Mal in seinem Leben nach Deutschland zu kommen.
Sie antwortete nicht mehr und alles, was wir hörten, war die Sehnsucht nach dem Tod. "Ich will endlich sterben", war alles, was wir über Wochen hörten.
Zum Schluss noch einmal den Namen meines Vaters.
Es war hart und es war für unser Weiterleben nicht gut.
Wir haben sie begleitet, aber sie hat sich von uns, von mir und vom Leben nicht verabschiedet.
Ihr Herz war schon lange gebrochen, als sie schließlich starb.
Als meine Mutter letzten Monat starb, hatte sie zuvor drei Monate Zeit, sich auf ihren Tod vorzubereiten.
Mein Vater schrieb mir, sie hat nichts hinterlassen außer dem Wunsch, dass ich nicht benachrichtigt werden würde.
Die Erinnerung an sie wird immer die bleiben, die ich so sehr fürchten und hassen gelernt habe.
Mein Vater indes regelt seine letzten Angelegenheiten im wahrsten Sinne des Wortes.
Ich habe ein umfangreiches Regelwerk zugeschickt bekommen, wie ich die Klospülung in einem fremden Haus in einem fremden Land reparieren kann, wenn er stirbt.
Ich bin die Alleinerbin, ich habe mehrere Seiten Kontaktdaten, Übersetzungshilfen und Anweisungen bekommen, wie nach seinem Tod zu verfahren ist.
Das ist jetzt nicht das, was ich mir gewünscht habe.
Da steht nichts Persönliches, nichts Versöhnliches, kein Gefühl, kein Rückblick, nichts.
Nur ein 247-Punkte-Plan, wie ich mit Wasserleitungen im Winter, der Stromabmeldung und seinen Konserven zu verfahren habe.
Welche Erinnerung soll ich daraus mit mir in mein weiteres Leben tragen? Meine Versuche, meinen Vater als Erwachsene kennen- und verstehen zu lernen und damit auch einen anderen Blickwinkel auf meine eigene Kindheit bekommen zu dürfen, sind allesamt gescheitert.
Ich weiß nicht, wer dieser Mensch war.
Und was ihn bewegt hat.
Auf meinem Computer und dessen Sicherungen befinden sich meine letzten Worte an den Mann und die Kinder, sollte ich plötzlich aus dem Leben gerissen werden.
Ich überarbeite sie alle zeitlang und heule dabei Rotz und Wasser.
Es ist wichtig.
Es ist mir so wichtig, dass er sie lesen kann, wenn es mir nicht mehr möglich sein sollte, sie ihm selber zu sagen.
Und als Konsequenz der Ereignisse der letzten Monate habe ich angefangen, meine Tagebücher zu ordnen und lasse sie drucken.
Sie kommen an unseren sicheren Ort, so dass sie erst nach meinem Tod gelesen werden können.
Mein gesamtes Leben, meine Erlebnisse, meine Beweggründe, meine Gedanken. Mich.
Äußerlich haben wir alles geordnet und geregelt.
Wir haben ein ausführliches Testament, wir haben Vormünder bestimmt, Eventualitäten geregelt, einen Nachlassverwalter für die Kinder, sollten sie noch unter 25 sein.
Aber das werden unsere Kinder nicht im Herzen tragen.
Ein echtes Erbe braucht ein Stück eines Selbst, das man weitergeben kann, wenn man diese Erde verlässt.
Über sechs Ecken
Ein Anruf am frühen Samstag Abend.
Meine erste Schwiegermutter ist am Apparat.
Ihre Halbschwester hätte sie angerufen.
Ob wir informiert wurden, dass meine Mutter tot ist.
Es hämmert in meinem Kopf.
Sie ist tot. Meine Mutter ist tot.
Ich spüre, wie mein Herz sich weitet.
Ganz leise, ganz groß, ganz hell.
Meine Gedanken sind diffus. Warum? Wann? Wieso?
Sie ist noch viel zu jung zum Sterben.
Ich sehe die verhärmten Gesichtszüge meiner Mutter vor meinem geistigen Auge.
Den Hass, den Ekel und die Verachtung in ihren Augen.
Die Kälte, die in mir so viel zerbrochen hat.
Die Erinnerung wird hinweggeweht.
Einfach so.
Das letzte Mal, das wir sie am Telefon gehört hatten, ist ein halbes Jahr her, als Uroma starb.
Als wir meinen Vater darüber informierten, dass seine Mutter gestorben ist.
Irgendwann Ende Januar sei sie gestorben, höre ich. Das ist nun schon mindestens 14 Tage her.
Ich denke an meinen Vater. Er hat sich anscheinend entschieden, mich nicht zu informieren.
Das ist einerseits völlig nachvollziehbar, auf der anderen Seite.... ein geradezu kindischer Trotz streitet mit meiner Vernunft darum, ob ich ein Recht darauf habe, zu erfahren, ob meine eigene Mutter gestorben ist.
Das ungeliebte Kind fragt sich, ob es in ihren letzten Minuten oder Stunden noch eine Rolle in ihren Gedanken gespielt hat.
War da Sehnsucht?
Oder Reue?
Und würde das Wissen darum irgendetwas ändern?
Fassungslos
Ich sehe immer noch jeden Tag auf deine Seiten.
Immer und immer wieder.
Es ist 7 Jahre her, dass wir uns voneinander gelöst haben.
Es war unschön. Sehr. Es ist viel passiert.
Das Jahr, das ich mit dir verbracht habe, war eines der intensivsten meines Lebens.
Ich habe dich so sehr geliebt. Vergöttert.
Unendlich begeistert, dass ich tatsächlich einen Gleichen gefunden hatte.
Niemals hätte ich das für möglich gehalten.
Wir haben uns gestützt. Hochgeholfen.
Und wehgetan. So furchtbar weh.
Meine Computerdateien zeugen von diesem Jahr.
Da sind nämlich keine.
Kaum Fotos, keine Blogeinträge, nur der Austausch mit dir. Das war alles, was zählte. Ich habe dir so viel zu verdanken. So.verdammt.viel.
Du warst ein Ausnahmemensch, nicht nur für mich.
Und du hast schwer an deiner Last getragen.
"Ich weiß, dass ich früh sterben werde."
Das ist ein Satz, der mich nie mehr losgelassen hat.
Ich habe ihn abgetan, ich konnte das nicht gut annehmen.
Und du hast ihn wiederholt. Eindringlicher.
"Ich weiß, dass ich früh sterben werde."
Es war dir bitterernst.
Du hast mir von deinem Mann erzählt, der schon einmal seine Frau gehen lassen musste. Und dass du alles nur Menschenmögliche tun würdest, damit diese Geschichte sich nicht wiederholen würde.
Es ist dir nicht gelungen.
Und es lässt mich fassungslos zurück, wie das Leben so ungerecht sein kann.
Immer wieder.
Die vielleicht bitterste Erkenntnis des Lebens ist, dass nicht alle Geschichten gut enden.
Egal, woran wir glauben.
Egal, wie hart wir kämpfen.
Ich vermisse dich.
Seit 7 Jahren.
Seit fast zwei Monaten.
Schon immer.
Für immer
Niemand nach dir, habe ich dir damals versprochen und das fällt mir leicht.
Du bist und warst einzigartig.